///// Einführung

Die Studierenden des Grundstudiums (3./4. Sem.) nähern sich dem Artefakt Stadt über eine Folge mehrerer Übungen, in denen individuelle Wahrnehmungen von Stadt entwickelt werden sollen. Ziel ist es, die Studierenden in die Lage zu versetzen, die komplexen und dynamischen Systeme der „Stadt“ lesen, bewerten und in sie eingreifen zu können. Im Vordergrund der Untersuchungen steht dabei die Frage nach den Identitäten der Städte im globalen Kontext. Welche Zeitepochen und welche Eigenschaften entscheiden über die Bilder einer Stadt? Wie wird der Begriff Identität im Zusammenhang mit einer Stadt definiert? Hierbei werden globale und regionale, private und öffentliche Aspekte, wie auch die Begriffspaare Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, Form und Raum, Wachstum und Schrumpfung sowie Raum und Aktivität unter veränderten gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen detailliert betrachtet.

///// Urbane Identitäten

Der Einstieg der Studierenden (drittes Semester) in den Städtebau ist unter das Thema „Urbane Identitäten“ gestellt. In einer ersten Übung (warming up) wird nach den persönlichen „Top 3 Cities of the World“ gefragt (WS04/05). Diese können sowohl reale Städte sein, aber auch Stadtvisionen aus Film, Theater, Literatur und Malerei. Die Studierenden zeigen uns in diesem Aufgabenteil Städte in vergleichender Darstellung, die sie beeindrucken, faszinieren, aufregen oder verwirren.

 

///// Stadtporträt

In einem weiteren Schritt entwerfen die Studierenden ein mehrschichtiges, filmisches Stadtporträt, beispielsweise von Braunschweig. Wie ein Maler in einem Porträt (Bildnis) seine persönliche Wahrnehmung des Subjekts zeigt, wird nach dem persönlich wahrgenommenen Bild des gegenwärtigen Zustands der Stadt gefragt. Die Studierenden stellen ein optisches und akustisches Porträt einer Stadt (im WS 05/06 z.B. von Wolfsburg) her. Es ist freigestellt, ob dabei eine Geschichte (Handlung) erzählt wird, mit „Akteuren“ und/oder einem Erzähler gearbeitet oder nur Szenen des städtischen Geschehens gezeigt werden. Es entstehen Filme mit unterschiedlichen filmischen Einstellungsgrößen (Detail, Nah, Halbtotal, Total, Panorama/Weit) und Zeitfaktoren (Zoom in, Zoom out, Cut, Schärfe, Unschärfe) von ca. zwei Minuten Länge. Ziel ist das Herausarbeiten und Darstellen der spezifischen Eigenschaften, Charakterzüge und Potenziale der jeweiligen Stadt. Fertigkeiten im Umgang mit CAD-, Bildbearbeitungs-, Filmschnitt- und Darstellungsprogrammen erlernen die Studierenden integrativ.

///// ort versus un-ort

In einem weiteren Teilschritt untersuchen sie zwei artifizielle Orte beispielsweise im Stadtgebiet von Braunschweig: der eine Ort ist ein Ort, der positiv bewertet wird, während der zweite ein Ort mit negativ definierten Eigenschaften ist. Als Kriterien müssen diese Orte Grenzen aufweisen, d.h. sie müssen räumlich definiert sein, die Orte können Innen- oder Außenräume sein, sie müssen öffentlich erlebbar, zugänglich sein. Mit dieser Aufgabe wird die ästhetische Wahrnehmung angesprochen, d.h. eine sinnliche (sensitive) Wahrnehmung von Orten.

Orte sind als besondere Stellen im Raum zu verstehen. Handlungen und Ereignisse sind untrennbar mit einem spezifischen Ort verbunden, sie finden nicht ortlos statt. Atmosphären spezifischer Orte werden durch ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren erzeugt. Für die Studierenden des dritten Semesters sind zunächst Innenräume, Stadträume und landschaftliche Räume von Relevanz. Sie verstehen, dass erst durch die subjektive Erfahrung ein Ort eine persönliche Bedeutung bekommt, und dass die Begriffe Atmosphäre und Raum untrennbar mit Orten verbunden sind. Sie bedingen sich gegenseitig, Raum ist ohne Atmosphäre nicht möglich, ebenso umgekehrt. Die in den vorausgegangenen Übungen angesprochenen Erinnerungsbilder, die jeder Mensch mit sich trägt, sind auch für diesen Aufgabenteil wesentlich.

///// Analyse

Städte setzen sich aus verschiedenen, sich überlagernden Teilbereichen und zeitlichen Schichten zusammen. Das fragmentarische Gefüge enthält sowohl Brüche, Diskontinuitäten und Widersprüche wie auch homogene Entwicklungen. Um die Komplexität des urbanen Systems besser zu verstehen, werden seine Teile isoliert betrachtet. Durch die Zuordnung zu spezifischen, klar definierten Themen werden die Studierenden zu Experten in den jeweiligen Bereichen. Untersucht werden Programm und Aktivitäten, Stadtquartiere, Baustrukturen bzw. Stadtfelder, Gebäudetypologien, Grün- und Freiräume, sozialer und psychologischer Raum. Die Ergebnisse werden in einer Gesamtschau dokumentiert. Ziel dieser Übung ist es, die Stadt in Ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen, zu analysieren, zu kommunizieren und zu bewerten.

///// Stadtidentität – Hypothese

Mit dieser Aufgabe sollen, ausgehend von der Analyse der Stadtschichten, Szenarien möglicher „neuer“ Identitäten einer vorgegebenen Stadt (Beispiel Braunschweig) erarbeitet werden. Im ersten Schritt werden existente Mängel/Defizite und mögliche Qualitäten/Potentiale einer von den Studierenden gewählten Stadtschicht festgestellt. Die erkannten Potentiale sollen in Form von Hypothesen in Hinsicht auf die „neue“ Identität formuliert und in ein abstraktes Modell umgesetzt werden.

In einem zweiten Schritt wird die neue Identität präzisiert. Ziel dieser Aufgabe ist für die neue Identität ist eine prägnante Idee, ein spannendes Szenario zu entwickeln, es stellt eine Vorübung für das konzeptionelle, städtebauliche Entwerfen dar. Gefragt sind radikale und visionäre Konzepte.Urbanes Projekt
Das Urbane Projekt wird als prozessorientierter Entwurf begriffen, der sich über das vierte Semester erstreckt. Variierende Teilübungen führen an das städtebauliche Entwerfen heran. Das Erkennen einer räumlichen Struktur und deren Transformation in eine stadträumliche Situation soll ein Verständnis für den städtischen Maßstab und die Organisationselemente einer Stadt vermitteln.

///// Struktur und Raumfolge

Im ersten Teil dieser Übung werden die räumlichen Strukturen, verstanden als das Zusammenwirken von Baukörpern und Freiräumen, untersucht. Eine von den Studierenden gewählte Struktur dient als Grundlage für die Organisation von Masse (Gebäude) und Leere (Freiraum) im städtebaulichen Entwurf. Sie suchen sich eine Struktur aus der Natur, Kunst oder weiteren Bereichen, die ihnen für die Organisation von Raum in einem städtebaulichen Maßstab geeignet erscheint. Anschließend übersetzen sie die erkannten Charakteristika in ein dreidimensionales, physisches Modell.

Im zweiten Teil dieser Übung soll eine spannungsvolle Raumfolge aus der zuvor gewählten Struktur erkannt werden. Die Studierenden extrahieren aus der gefundenen Struktur eine aussagekräftige Raumfolge in einem größeren Maßstab und übersetzten diese wiederum in ein dreidimensionales Modell. Ziel ist das Erkennen und Bewerten von Strukturen und Raum, Rhythmus, Proportion, Dimensionen, Richtung, Sequenz und Choreografie als mögliche Eigenschaften von Raumfolgen.

Die Wahrnehmung einer Raumfolge ist zwingend mit der Bewegung des Betrachters verbunden. Die Studierenden werden in die Lage versetzt, die wichtigsten Eigenschaften (linear – radial, kontinuierlich – diskontinuierlich, etc.) der extrahierten Raumfolge zu beschreiben, zu abstrahieren und zu reflektieren.

///// Adaption und Applikation

Bekannte, vorhandene städtebauliche Entwürfe werden in d. Übung maßstäblich auf ein vorgegebenes Entwurfsareal appliziert. Es werden bewusst einige Aspekte (Entstehungsprozess, soziale und philosophische Hintergründe, Kontext) dieser Entwürfe ausgeblendet. Der Fokus liegt auf den morphologische Aussagen. Die vorgegebenen Entwürfe, genauer deren morphologischen Aussagen (Baukörper und Freiräume), werden von den Studierenden auf das Planareal appliziert. In dieser Versuchsanordnung entsteht sehr schnell ein Verständnis für städtebauliche Dimensionen und Maßstäbe, wenn auch zunächst noch nicht gänzlich reflektiert. Die Studierenden lernen, Aussage und Essenz der Vorlage zu erkennen und zu bewerten.

///// Entwurf

Im Vorfeld hat eine Analyse verschiedene Aspekte zu einem vorgegebenen Entwurfsprogramm und zum stadträumlichen Kontext deutlich gemacht. Die Studierenden werden ermutigt, eine selbstbewusste Haltung gegenüber der Umgebung einzunehmen. Für die gewählten Aktivitäten sollen sie ein interessantes, spannendes und qualitativ hochwertiges räumliches Ensemble entwickeln. Wichtiges Kriterium ist das qualitätvolle Zusammenspiel von Aktivitäten, Baustrukturen und Freiräumen.
Intention der Entwurfsaufgaben ist die Gestaltung einer identitätsreichen, städtebaulichen und architektonischen Form. Dazu fragen die Studierenden gezielt Parameter nach Grenzen und Übergängen, Innen und Außen, die Verknüpfung von Architektur, Infrastruktur und Landschaft, die öffentlichen und die privaten Räume ab. Dabei werden sie in die Lage versetzt, mit raumgenerierenden Strategien (Faltung, Schichtung, Serie, Stapelung, Kontraktion, Subtraktion, Wiederholung, Faltung, Ein- und Ausstülpung, Skalierung, Sequenz) zu arbeiten.
Wesentliches Element während der Entwurfsbearbeitung ist die Bewegung der Nutzer / Akteure durch den erdachten städtischen Raum (Wegeführung / Szenografie / Choreografie) und das Entwickeln einer möglichst großen Vielfalt von Raumgefügen (kontinuierliche und isolierte Räume, Raumflüsse, private und öffentliche Räume). Ebenso wird der räumliche Ausdruck, Organisation und Form des Programms sowie das Verhältnis der Räume untereinander und zum menschlichen Körper (Maßstab) überprüft.
Für die Entwurfsarbeit und zur Kommunikation der ersten Konzeptideen ist der Computer unverzichtbares Medium. Die StudentInnen lernen den Rechner nicht nur während des Modeling und zum Visualisieren einzusetzen, sondern auch zum strukturierten Arbeiten und während der Konzeptionsphase des Entwurfs. Die Art der jeweils gestellten Entwurfsaufgaben forciert einen permanenten Wechsel von analoger zu digitaler Arbeitsmethode und von Modell- zu Computerskizze.

Veröffentlicht in:

Dream City oder Städtebau und konzeptionelles Entwerfen
In Landschaft – Architektur- Kunst – Design

Hrsg. Eberhard Eckerle u. Joachim Wolschke-Bulmahn
2006, ISBN 3-89975-076-4